Fachartikel: Was ist Myasthenia gravis?

Es gibt neurologische Erkrankungen, die erkennt man auf den ersten Blick.

Andere Erkrankungen wiederum sind so selten, dass sie sich nur durch fachlich versiertes Nachfragen durch erfahrene Neurologen diagnostizieren lassen.

Dazu gehört die neurologische Erkrankung „Myasthenia gravis“, der eine „schwere, belastungsabhängige Muskelschwäche“ zugrunde liegt. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung mit Störung der neuromuskulären Übertragung. Verschiedene zirkulierende polyklonale Antikörper führen z.B. zur Blockierung und Abnahme der postsynaptischen Acetylcholinrezeptoren an der motorischen Endplatte der Muskulatur. Bei einer generalisierten Myasthenie kann dies unter Umständen alle quergestreiften Muskeln betreffen.

Welche Symptome können bei einer Myasthenie auftreten?

Zu Beginn klagen viele Patienten, vor allem im Laufe des Tages und wenn sie müde sind, über Sehstörungen, vornehmlich wechselnde Doppelbilder und eine „Müdigkeit“ der Oberlider, so dass die Augen schließlich ungleich weit geöffnet sind.

Diese Muskelschwäche kann sich schließlich auf andere Muskelgruppen, z.B. die Sprech-, Schluck- und mimische Muskulatur ausbreiten. Es kann die gesamte Willkürmuskulatur, auch die der Atmungsmuskeln betroffen sein. Die Patienten klagen über ein Schweregefühl des Kopfes, über Atemnot bei Belastung und eine zunehmende Schwäche beim Treppensteigen.

Beschwerden, nach denen gezielt gefragt werden muss. Die Störungen werden in der Regel bei Anstrengung stärker und sind am Abend ausgeprägter als am Morgen. Allerdings mildert sich die Symptomatik nach einer Erholungsphase.

Die Symptomatik wird meist durch seelische Belastungen, Schlafmangel, Alkohol und Fieber und grippale Infekte verstärkt. Der Schweregrad und Schwerpunkt der Muskelschwäche sind von Patient zu Patient gerade in der frühen Phase der Erkrankung sehr verschieden. Jeder Betroffene hat seine eigenen ganz charakteristischen Probleme, Symptome und funktionellen Einbußen bzw. körperlichen Beeinträchtigungen.

Jede Myasthenie–Erkrankung bedarf somit einer individualisierten Therapieführung!

Beginn und Häufigkeit

Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter (auch im Kindesalter) auftreten. Frauen erkranken früher schon ab dem 20. Lebensjahr, oft auch schwerer als Männer, bei denen der Häufigkeitsgipfel im 4.Lebensjahrzehnt liegt. Man schätzt die Häufigkeit auf etwa einen Erkrankten pro 10.000 Personen, so dass die Myasthenia gravis zu den „rare diseases“ innerhalb der EU zählt. Die Erkrankung ist nicht ansteckend. Ein familiäres Auftreten ist extrem selten.

Diagnosesicherung

Zur Sicherung der Erkrankung stehen heute dem Arzt oder Neurologen verschiedene klinische und laborchemische Tests zur Verfügung: Anamneseerhebung und einfache Untersuchung:

  • Doppelbilder? Prüfung von Augenmotilität und Lidspaltenweite
  • Kau– und Schluckbeschwerden?
  • Zunahme der Beschwerden im Tagesverlauf durch muskuläre Belastungen?
  • Schwäche proximaler Muskelgruppen Vitalkapazität – Atem- oder Hustenstoß?

Zusatzuntersuchungen:

  • Pharmakologische Testung ( z.B. positiver Edrophoniumchlorid-Test)
  • Elektrophysiologie: Serienstimulation, in Einzelfällen auch Einzelfaser – EMG
  • Autoantikörper (Anti-ACHR-AK)
  • Antikörper gegen Titin bei Thymomverdacht Antikörper gegen Tyroskinase (Anti– MuSK-AK)
  • Thorax – CT, ggf. thorakales MRT

Verlauf und Heilungsaussichten

Die Erkrankung Myasthenia gravis ist ein seltenes Krankheitsbild, genaue epidemiologische Zahlen sind schwierig zu ermitteln. Hinzu kommt, dass häufig eine generalisierte Myasthenie mit okulären Teilsymptomen beginnt. Der Verlauf der Erkrankung ist heute unter Ausschöpfung aller Behandlungsmöglichkeiten günstig. Die Myasthenie führt heute nicht mehr zu einer Lebensverkürzung. Die meisten Patienten können ein weitgehend normales Leben führen und ihren Beruf ausüben. Eine 100%ige Kräftigung ist jedoch meist nicht zu erreichen und gewisse Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit müssen toleriert werden. Jeder Myastheniker muss seine eigene, individuelle Belastungsgrenze herausfinden. Für die Zukunft ist zu hoffen, dass die intensive Forschung bald noch bessere Behandlungsmöglichkeiten ermöglicht.

Therapieplanung- und Therapiemöglichkeiten

Durch spezielle Medikamente (z.B. Pyridostigmin ( Mestinon®, Kalymin®) Wirkung 3-4 Stunden oder Prostigmin, wirkt schneller, aber kürzer) wird der Abbau des  Überträgerstoffes Acetylcholin gehemmt und die Nervenimpulse verstärkt.

Näheres (Dosierung und Nebenwirkungen) siehe Leitfaden für Myasthenia gravis Patienten der DMG (zu erhalten über die Deutsche Myasthenie Gesellschaft in Bremen).

Bei zu hoher Dosis kann es zu einer so genannten „cholinergen Krise“ kommen, die eine sofortige intensiv-medizinische Behandlung und Überwachung in einer speziell darauf eingerichteten, neurologischen Klinik erfordert.

Eine „myasthene Krise“, die trotz regelmäßiger Einnahme von Medikamenten, z.B. als Folge eines fieberhaften Infektes, psychischer Belastung oder durch unsachgemäße Einnahme von Medikamenten entsteht, (siehe Leitfaden für Myasthenia gravis Patienten), muss ebenfalls durch eine sofortige Einweisung in ein Myasthenie-Zentrum, eine spezielle Myasthenie–Ambulanz oder Neurologische Klinik behandelt werden.

Eine weitere Therapiemöglichkeit in der frühen Krankheitsphase ist die Thymektomie, d. h. die operative Entfernung der Thymusdrüse. Man weiß heute, dass die Thymusdrüse bei der Entwicklung der Krankheit eine große Rolle spielt.

Der operative Eingriff muss bzw. sollte individuell zwischen dem behandelnden Neurologen, dem Thoraxchirurgen und dem Patienten als Therapieverfahren besprochen werden. Zudem sollte über die verschiedenen Therapieverfahren (transthorakal/ minimalinvasiv) informiert werden.

Die medikamentöse Therapie der Myasthenia gravis basiert primär auf:

  • Cholinesterasehemmern (Pyridostigmin)
  • Kortison
  • Immunsuppressiva – Azathioprin (Langzeittherapie) oftmals auch in Kombination mit Kortison

Häufig müssen die erwähnten therapeutischen Möglichkeiten nacheinander ausgetestet werden und eventuell auch miteinander kombiniert werden, um ein Optimum an therapeutischem Effekt zu erreichen.

Fazit

Die Therapieform sollte individuell auf den Betroffenen abgestimmt werden, um die Lebensqualität und auch die Berufsfähigkeit wieder herzustellen, bzw. langzeitig zu erhalten.

Jeder Betroffene hat seine „eigene, individuelle Myasthenie“, dies muss bei der Therapieplanung stets berücksichtigt und beachtet werden. Danach sollte sich die medizinische Therapie ausrichten. Eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient spielt hierbei eine große Rolle und ist wünschenswert.

Literatur:

Leitfaden für Myasthenia gravis und das Lambert-Eaton-Syndrom Nr. 10